Merkmale
Allgemeiner Körperbau
Ratten sind eine vielgestaltige Gruppe, die einzelnen Arten unterscheiden sich beträchtlich. Sie erreichen eine Kopfrumpflänge von 8 bis 30 Zentimetern, die Schwanzlänge ist variabel, je nach Art kann der Schwanz deutlich kürzer bis deutlich länger als der Rumpf sein. Die Wanderratte, eine der schwersten Arten, erreicht 200 bis 400 Gramm – einzelne Tiere können bis zu 500 Gramm wiegen. Viele Arten sind deutlich leichter, so erreichen Polynesische Ratten auf Hawaii ein Durchschnittsgewicht von 38 Gramm.
Das Fell kann weich oder hart sein, bei einigen Arten sind die Haare zu Stacheln modifiziert. An der Oberseite variiert seine Färbung von schwarz über diverse Grau- und Brauntöne bis hin zu gelblich und rötlich, an der Unterseite ist es meist weißlich oder hellgrau. Die Pfoten und der mit Schuppenringen versehene Schwanz sind häufig nur spärlich oder gar nicht behaart.
Der Magen der Ratten ist in zwei Abteilungen untergliedert: Vormagen und Magenkörper. Der Vormagen besitzt eine drüsenlose (kutane) Schleimhaut, der Magenkörper die gewöhnliche Magenschleimhaut. Beide Abteilungen sind durch eine Schleimhautfalte getrennt. In deren Bereich mündet auch die Speiseröhre in den Magen. Diese Falte macht ein Erbrechen für Ratten nahezu unmöglich. Der Aufschluss schwer verdaulicher Nahrungsbestandteile erfolgt im großen Blinddarm.
Ratten besitzen keine Schweißdrüsen; die Wärmeabgabe erfolgt vor allem an den haarlosen Stellen wie Schwanz und Ohren. Je nach Art haben die Weibchen zwei bis sechs Paar Zitzen.
Kopf und Zähne
Ratten haben eine spitze Schnauze. Die Zahnformel lautet I 1/1 – C 0/0 – P 0/0 – M 3/3, insgesamt also 16 Zähne. Die Schneidezähne sind wie bei allen Nagetieren zu wurzellosen, dauerwachsenden Nagezähnen umgebildet. Zwischen den Schneide- und den Backenzähnen befindet sich eine große, Diastema genannte Lücke.
Im nasenseitigen Augenwinkel befindet sich die Hardersche Drüse (Nickhaut-Drüse), die ein porphyrinhaltiges, rötliches Sekret produziert. Dieses Sekret wird beim Putzen verteilt. Bei kranken Tieren mit vermindertem Putztrieb kommt es zu einer Ansammlung dieses Sekrets im Augenwinkel oder zu einem Abfluss über den Tränenkanal zur Nasenöffnung.
Der Geruchssinn ist gut entwickelt. Er dient nicht nur der Nahrungssuche, sondern spielt auch bei der Kommunikation mit Artgenossen eine wichtige Rolle. Auch das Gehör ist gut ausgeprägt. Ratten hören wie andere Kleinnager bis in den Ultraschallbereich hinein. Das im Innenohr befindliche Gleichgewichtsorgan ist komplex gebaut und sehr leistungsfähig.
Verbreitung und Lebensraum
Das ursprüngliche Verbreitungsgebiet der Ratten umfasste Südostasien von Indien und China über die indonesische Inselwelt und reichte bis nach Neuguinea und Australien. Ratten gehören damit zu den wenigen Plazentatieren, die die Wallace-Linie überschritten haben und in der australischen Region heimisch wurden. Von allen landgebundenen Plazentatieren haben dies vor Ankunft der Menschen nur noch weitere Altweltmäuse geschafft. Heute sind die Wander- und die Hausratte weltweit verbreitet, auch die Pazifische Ratte hat ihr Verbreitungsgebiet auf zahlreiche pazifische Inseln ausgedehnt.
Ratten leben zum überwiegenden Teil in Wäldern. Ihre Lebensräume können von tief gelegenen Regenwäldern bis Gebirgswäldern variieren, die meisten Arten meiden die Nähe des Menschen. Einige Arten haben sich als Kulturfolger hingegen an die Nähe des Menschen angepasst und finden sich sowohl in Häusern als auch in Reisfeldern und anderen landwirtschaftlich genutzten Flächen.
Lebensweise und Ernährung
Ratten können boden- oder baumbewohnend sein. Viele Arten können gut klettern und errichten Nester in den Bäumen als Unterschlupfe. Andere ziehen sich in Erdbaue, Felsspalten oder in hohle Baumstämme zurück.
Die besser erforschten, kulturfolgenden Arten leben in Gruppen von bis zu 60 Tieren, wobei die Gruppenmitglieder sich am Geruch erkennen. Gruppen setzen sich aus einem oder mehreren Männchen und mehreren Weibchen zusammen, beide Geschlechter etablieren eine Rangordnung. Es sind territoriale Tiere, die Reviere werden gegen Eindringlinge verteidigt. Über die Lebensweise der meisten Arten ist jedoch kaum etwas bekannt.
Ratten sind Allesfresser, die eine große Vielfalt an pflanzlicher und tierischer Nahrung zu sich nehmen. Die meisten Arten bevorzugen Samen, Körner, Nüsse und Früchte, ergänzen den Speiseplan aber mit Insekten und anderen Kleintieren. Es gibt aber auch Arten, die vorwiegend fleischliche Kost verzehren. Wanderratten beispielsweise sind vorwiegend Fleischfresser, zu ihrer Beute zählen Vögel und deren Eier, kleine Säugetiere und andere Wirbeltiere und auch Fische. Die Arten, die in der Nähe des Menschen leben, finden ihre Nahrung häufig in Vorratslagern, auf Feldern oder im Abfall. Haus- und Wanderratten können nicht nur alles fressen, was Menschen essen, sondern noch zusätzliche Stoffe wie Pelze, Seife, Papier und Bienenwachs.
Fortpflanzung
Unter günstigen klimatischen Voraussetzungen kann die Fortpflanzung das ganze Jahr über erfolgen, vielfach gibt es jedoch feste Paarungszeiten. So tragen die neuguineanischen Ratten in der Trockenzeit von Juni bis Oktober kaum oder keine Würfe aus, auch die australischen Rattenarten pflanzen sich saisonal fort: bei den Tieren im Süden des Kontinents liegt der Höhepunkt der Geburten im Frühling und Frühsommer.
Die Anzahl der Würfe pro Jahr hängt daher auch vom Klima ab. Bei sich ganzjährig reproduzierenden Arten können es bis zu zwölf Würfe im Jahr sein, bei anderen hingegen nur einer bis drei. Die Tragzeit ist variabel, bei der Hausratte rund 21 bis 22 Tage, bei der Wanderratte geringfügig länger- Bei anderen Arten kann sie von 19 bis 30 Tage variieren.
Wanderratten können bis zu 22 Neugeborene zur Welt bringen, der Durchschnitt liegt bei acht bis neun. Bei den meisten Arten sind es jedoch deutlich weniger, so ergaben Untersuchungen von Arten auf der Malaiischen Halbinsel drei bis sechs Neugeborene und auf Neuguinea nur ein bis drei Neugeborene. Neugeborene Wanderratten wiegen bei der Geburt rund fünf bis sieben Gramm und sind nackt und blind, mit fünfzehn Tagen öffnen sich ihre Augen und ihr Fell ist vorhanden. Junge Wanderratten sind mit rund 22 Tagen entwöhnt und verlassen ihr Nest.
Wanderratten können mit zwei bis drei Monaten und Hausratten mit drei bis fünf Monaten geschlechtsreif sein. Bei anderen Arten dauert es länger, so pflanzen sich Pazifische Ratten manchmal erst nach dem ersten Winter fort.
Ratten und Menschen
Ratten im Gefolge des Menschen
Einige Rattenarten leben als Kulturfolger in der Nähe des Menschen
Von den weltweit über 60 Arten der Ratten haben sich mehrere dem Menschen weitgehend angeschlossen und leben zeitweilig oder dauernd in seiner Nähe. Dies sind die Wanderratte (R. norvegicus), die Hausratte (R. rattus), die Pazifische Ratte (R. exulans), die kletteruntaugliche Reisfeldratte (R. argentiventer), die Himalajaratte (R. nitidus), sowie Rattus pyctoris.
Nach Mitteleuropa kamen die Hausratten wohl erst mit der römischen Besiedlung, als „Schiffratte“ hat sie ihr Verbreitungsgebiet seit der Antike ausgedehnt. Die Wanderratte hat vermutlich erst im 18. Jahrhundert Mitteleuropa erreicht. Bedingt durch die veränderte Bauweise von Häusern und Schiffen hat sie die Hausratte im 20. Jahrhundert weitgehend verdrängt. Die Pazifische Ratte wurde im Zuge der Ausbreitung der Lapita-Kultur in Ozeanien verbreitet.
Ratten haben durch den Menschen auch abgelegene Inseln erreicht und stellen dort oft eine Bedrohung für die einheimische Tierwelt dar. Insbesondere Wanderratten, die Eier und Jungvögel sowie kleine Wirbeltiere fressen, sind so für den drastischen Rückgang oder gar Aussterben mehrere Arten verantwortlich.
Wanderratten werden als Laborratten häufig in Tierversuchen eingesetzt. Durch spezielle Züchtung ist die als Labor- und Heimtier häufige Farbratte, eine Zuchtform der Wanderratte, entstanden.
Ratten als Schädlinge
Die wenig spezialisierten und somit sehr anpassungsfähigen freilebenden Tiere gelten gemeinhin als Nahrungsmittelschädlinge. Der in der Landwirtschaft durch sie verursachte Schaden ist enorm, so dass gegen sie Schädlingsbekämpfungsmittel eingesetzt werden. Zudem treten sie in Gartenanlagen auf, wo besonders Wurzeln und Knollen angenagt werden. Auch Gebäude werden in Mitleidenschaft gezogen, weil diese Nager Wasser- und Abwasserleitungen beschädigen können. Zudem ist die Verbreitung von Krankheitserregern durch die Ratten ein Problem.
Freilebende Ratten können, ebenso wie nahezu alle anderen Tiere, als Vektoren direkt oder indirekt diverse Krankheitserreger mit den von ihnen ausgelösten Krankheiten übertragen. Über den Rattenfloh (Xenopsylla cheopis), der durch seinen Biss auch Menschen mit dem Bakterium Yersinia pestis infizieren kann, können freilebende Ratten indirekt Überträger der Pest sein. Ob die Epidemien in der Antike und vor allem im Mittelalter in Europa (Schwarzer Tod) jedoch wirklich auf dieses Bakterium und den damit verbundenen Übertragungsweg zurückzuführen sind, wird heute angezweifelt. Möglicherweise handelte es sich um eine virale Infektion. Daneben sind Ratten neben anderen kleinen Nagern Reservoirwirte für diverse Borrelienarten (Bakterien), die dann von Vektoren wie beispielsweise Zecken auf Tier und Mensch übertragen werden können.
Betreiber von abwassertechnischen Anlagen sind nach den deutschen Unfallverhütungsvorschriften zur Rattenbekämpfung verpflichtet. Dies betrifft vor allem die Kommunen und Abwasserzweckverbände. Grund dieser Vorschrift ist die Bekämpfung der Weil-Krankheit.
Freilebende Ratten werden mit Giftstoffen bekämpft (Rodentizide). Die für Ratten entwickelten Giftstoffe (insbesondere Cumarinderivate) behindern die Blutgerinnung. Fraßköder, die den sofortigen Tod der Tiere herbeiführen, werden in der Regel von weiteren Ratten gemieden.
Bedrohung der Ratten
Die Allgegenwart einiger Rattenarten darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Rattenarten in ihrem Bestand bedroht sind. Wie bei vielen anderen Tieren sind besonders Inselendemiten betroffen. Die Gründe dafür liegen in der Verfolgung durch eingeschleppte Raubtiere, in der Bejagung und der Zerstörung ihres Lebensraums.
Zwei auf der Weihnachtsinsel vorkommende Arten, die Maclear-Ratte (Rattus macleari) und die Weihnachtsinsel-Ratte (Rattus nativitatis), sind ausgestorben. Die IUCN listet sieben Arten als „stark gefährdet“ (endangered): R. burrus, R. hainaldi, R. lugens, R. montanus, R. ranjiniae, R. simalurensis und R. vandeuseni. Sieben weitere Arten gelten als „gefährdet“ (vulnerable) und drei als „gering gefährdet“ (near threatened). Für 14 Arten sind „zu wenig Daten vorhanden“ (data deficient). Rund die Hälfte aller Rattenarten ist „nicht gefährdet“ (least concern).
Ratten in der Kultur
Die westliche Kultur sieht die Ratte hauptsächlich mit negativen Attributen behaftet.
In der Fabel gelten Ratten als hinterhältig, feige und verschlagen. An diese Eigenschaften knüpft auch die Verwendung als Schimpfwort für Menschen an. In der Literatur tauchen Ratten als Verursacher schlimmster seelischer und körperlicher Qualen auf, etwa in Edgar A. Poes Brunnen und Pendel oder George Orwells 1984. Weit bekannt ist die Sage des Rattenfängers von Hameln.
Neuere Kinderbücher versuchen dagegen, der Ratte durch eine positivere „Charakterisierung“ gerechter zu werden. Eine positive Rolle spielt eine Ratte in Kenneth Grahames Buch Der Wind in den Weiden von 1908.
Der asiatische und indische Raum hingegen misst der Ratte überwiegend positive Eigenschaften zu. So dient sie dem hinduistischen Gott Ganesha als Reittier und wird als Symbol für Intelligenz angesehen. Im Karni-Mata-Tempel werden tausende Ratten von Gläubigen mit Nahrung versorgt, es gilt als Glück-Bringend wenn eine der „heiligen“ Ratten einem über den Fuss läuft. Im chinesischen Tierkreis nimmt die Ratte die erste Position ein. Sie steht unter andererem für Ehrlichkeit und Kreativität.
Redensarten
Zahlreiche Umschreibungen der deutschen Sprache bedienen sich des Wortes „Ratte“, so „Landratte“, „Rattenkönig“ (für ein vollkommenes Wirrsal), „Rattenloch“ (für eine üble Absteige) oder „Rattenschwanz“ (für eine überlange unangenehme Kette von Folgewirkungen).
Der Ausspruch „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff“ ist eine Umschreibung der Tatsache, dass Ratten an Bord eines Schiffes versuchen, sich in Sicherheit zu bringen, wenn dieses - etwa aufgrund der Löcher, die sie selbst in den Rumpf genagt haben - unterzugehen droht. Der Sinn wird auf Menschen übertragen, die vor einer kniffligen oder gefährlichen Situation, die sie möglicherweise selbst verursacht haben, zu fliehen versuchen, wenn diese sich langsam abzeichnet.